Sind Programmierer Kunsthandwerker?

In Deutschland werden Software-Entwickler nicht selten für Ingenieure gehalten. Das liegt vor allem daran, dass im englischsprachigen Raum der Beruf Software Engineer bekannt ist. Tatsächlich spuckt Google hierzulande bei Eingabe von „Software ist Handwerk“ fast ausschließlich Seiten zu Software für Handwerker aus. Eine Tatsache, die so mancher Programmierer ärgerlich findet, weil er sich selbst absolut nicht als Ingenieur, sondern als kreativen Handwerker versteht. Ich habe unabhängig von einander vier Coder aus unterschiedlichen Bereichen gefragt, was sie davon halten.

Die Befragten

Stefan bezeichnet sich als Nerd, obwohl er keinen einzigen Hoodie besitzt. Er kennt unzählige Monty-Python-Zitate auswendig und hat als Schüler gerne das Schulsystem gehackt, um seinen Informatik-Lehrer in Bewegung zu setzen. Als zukunftsgewandter Software-Entwickler und -Architekt arbeitete er jahrelang für mittelständische Unternehmen und ist aktuell für einen internationalen Konzern tätig.

Frank hat ursprünglich Maschinenbau studiert und erwies sich als nahezu perfekter Ansprechpartner, da er sowohl Ingenieur als auch Coder ist und daher beide Perspektiven kennt. Gemeinsam mit seiner Frau führt er die rockende Agentur Werk 70 und hat „NUN“, das Neuwieder Unternehmer Netzwerk gegründet. Ein cooler Typ, den man regelmäßig auf Events zu digitalen Themen trifft.

Oliver ist Director of Engineering und Prokurist bei alfamedia. Aufgrund seines beruflichen Werdegangs hat er alle Facetten der Software-Entwicklung im Blick. Er denkt fortschrittlich, informiert sich weit über seinen Tellerrand hinaus und erkennt Trends nicht erst im Nachhinein. Oliver bewegt sich gerne und gekonnt in den sozialen Netzwerken.

Ramy ist freier Berater. Als Coder im Angestelltenverhältnis zu arbeiten? Nein, das wäre nichts für ihn. Auch er bezeichnet sich als Nerd und hat Zitate samt Quellenangabe parat, die sich Normalsterbliche wie ich nicht merken könnten. Die meisten Aufträge erhält er übrigens aus dem Ausland. Zum Beispiel in China scheint man interessierter an Innovationen zu sein als in Deutschland, sagt er.

Was sind Software-Entwickler nun wirklich, Ingenieure oder Kunsthandwerker?

Stefan: Ingenieure arbeiten nach Standards und Normen. Die gibt es so in der Software-Entwicklung nicht. Es gibt zwar Versuche, mit Entwurfsmustern ein gewisses Maß an Standardisierung zu erreichen, aber das alleine macht noch kein Ingenieurswesen aus.

Ein Ingenieur erfindet für gewöhnlich nichts, ein Entwickler hat wesentlich mehr kreative Freiheiten. Durch das Fehlen von Standards, ist Software-Entwicklung ein Prozess, der eine große Menge an Handarbeit beinhaltet. Nehmen wir zum Vergleich ein schmiedeeisernes Treppengeländer. Dieses wird von einem Kunstschmied in Handarbeit gefertigt. Dazu muss er wissen, wie es gefertigt wird. Er muss sein Handwerk beherrschen, um das bauen zu können. Doch zusätzlich zum Erlernten benötigt er Kreativität.

In der Softwareentwicklung benötigt man Kreativität, um Lösungen zu finden.

Frank: Was Stefan sagt, klingt, als würde er Ingenieure für elaborierte LEGO-Bastler halten, die aus einem Baukasten Teile nehmen und diese nach Bedarf zusammenfügen. Der universitär ausgebildete Ingenieur, und nur diese gibt es hierzulande, ist ein Vollwissenschaftler. Besteht ein technisches Problem, muss eben eine neue Maschine erfunden werden. Ja, dabei greift der Ingenieur auch auf standardisierte Teile (Schrauben, Muttern und jede Menge weiteres Gedöns) zurück. Die Funktion der Maschine zu entwickeln, ist aber ein ganz anderes Ding. Hierfür musst Du Unmengen an Hirnschmalz investieren, Simulationen und Versuche durchführen, um ganz spezielle Teile fertigen zu können. Das ist der akademische Anteil der Arbeit.

Außerdem ist auch der Programmierer nicht frei. Ganz im Gegenteil. Das zu schreibende Programm bzw. der dahinter liegende Algorithmus muss ebenso wie eine zu bauende Maschine penibel ein Lasten/Pflichtenheft erfüllen. Der Code entsteht nun auch nicht irgendwie, sondern muss in einer möglichst passenden Programmiersprache geschrieben werden. Innerhalb der Programmiersprache muss sich der Programmierer dann geradezu sklavisch an die Regeln von Syntax und Notation halten. Sonst funktioniert gar nichts.

Die Programmiersprache entspricht also den Normteilen. Aufbau von Code/Maschine unterliegt dann der Inspiration (5%) und Transpiration (95%) des Ausführenden. Beides sind reine intellektuelle Leistungen und haben keinerlei schaffenden, im Sinne von anfassbaren Charakter, und auch das ist bei beiden gleich. Du siehst: Die Rezeption des Programmierers als Ingenieur ist durchaus gerechtfertigt.

Wenn man von einem Kunsthandwerker ausgeht, so kann dieser machen, was immer er will, mit Ausnahme der Werkstoffeigenschaften, auf die er natürlich Rücksicht nehmen muss. Man könnte zwar argumentieren, dass er dem Programmierer damit nahe ist, weil der von der Idee über die Ausführung (Einhacken des Codes) bis zum fertigen Produkt alles in Personalunion durchläuft. Allerdings durchläuft der Kunsthandwerker keine intellektuelle/akademische Arbeitsphase.

Oliver: Softwareentwicklung ist ohne Frage eine kreative Tätigkeit. Ich finde den Begriff Kunsthandwerker gut, denn oftmals ist das eine sehr treffende Bezeichnung, jedenfalls wenn man in einem kreativen Bereich arbeitet oder gerade neue Produkte entstehen. Aber es gibt auch die andere Seite, wo man in einem sehr strikten Korsett arbeitet und dort weniger kreativ denn produzierend ist. Zudem gibt es auch noch diejenigen, die Software wie ein Ingenieur designen und entwickeln. Will heißen, es gibt alle drei Varianten parallel nebeneinander, und es kommt nur auf den Bereich an, in dem man arbeitet, welche Facette dominiert.

Und auch in meinem Team gibt es alle Varianten, obwohl wir eher im kreativen Bereich sind. Es gibt Kreativspieler wie meinen Kollegen Thorsten und mich aber auch Ingenieure, denen ich ein Design zur Umsetzung gebe. Und wir haben wiederum auch bloße Handwerker ohne viel Kunst.

Pauschal ist das nicht zu beantworten. Die einzige Pauschale ist, dass jeder Entwickler eine Prima Donna ist, wenn es sich um seine Arbeit dreht und man diese kritisiert.

Ramy: Das mit der Prima Donna stimmt! (lacht) Ich fühle mich so sehr mit meiner Arbeit verbunden, sie ist ein Teil von mir. Kritik kann daher sehr verletzend sein. Das ist das Amateurhafte an uns Entwicklern. Professionalität bedeutet nämlich, dass man sich zugunsten des Endergebnisses von seinem eigenen Wirken distanzieren kann. Daran müssen wir wohl noch arbeiten. Konkretes Beispiel: Ich entwickle mein eigenes Programmierwerkzeug und möchte es auf keinen Fall jetzt schon jemandem zeigen, weil es noch unfertig ist. Sinnvoller wäre aber, sich Feedback von außen zu holen.

Kunsthandwerk halte ich daher für einen passenden Begriff. Frank hat zwar insofern recht, als dass Ingenieure nicht nur Lego-Bastler sind. Doch anders als er, sehe ich in den Vorgaben, an die man sich innerhalb einer Programmiersprache halten muss, kein Argument gegen die Kunst, sondern dafür. Denn nur dort, wo Grenzen sind, ist Kreativität gefragt. Wir Software-Entwickler müssen sehr kreativ sein, um mit dem Bisschen, was da ist, Großes erschaffen zu können. Uns muss es gelingen, in teilweise simplen Formulierungen, hochkomplexe Sachverhalte auszudrücken. Trotzdem wünsche ich mir für die Zukunft mehr Kreativität in unserem Bereich. Ich verdiene seit über 20 Jahren mein Geld mit Software-Entwicklung, aber an meiner Arbeit hat sich nicht viel verändert. Immer noch setze ich mich an den Rechner und gebe Zeichen ein. Das ist doch kein Fortschritt. Ich arbeite daher daran, kleine organische Systeme zu bauen, die miteinander kommunizieren, selbst lernen, Erforderliches selbst programmieren und wachsen.

Alexandra: Das möchte ich gerne genauer wissen, Ramy, in einem anderen Blogbeitrag. Dir, Frank, Oliver und Stefan vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten und die spontane Bereitschaft sich zu diesem Thema zu äußern.

Und wie denkt Ihr darüber? Wird die Kreativität der Software-Entwickler unterschätzt?

software-entwicklungalskunsthandwerk3f
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Von Alexandra Klöckner

alexandrakloeckner.de

3 Kommentare

  1. Sidefact: Softwareentwicklung gehört nach dem ‚Arbeitskreis Kultur- und Kreativwirtschaft der Wirtschaftsministerkonferenz‘ zur Kreativwirtschaft (wie z.B. auch Museen, Theater, Designbüros u.a.). Hier geht es darum, welche Unternehmen statistisch erfasst werden, wenn man über ‚Die Kreativwirtschaft‘ spricht. Im Bundesverband der Innovationszentren ist unser TechnologieZentrum Koblenz daher eines der kreativsten Zentren überhaupt. Aber ob’s dadurch auch gleich zur Kunst wird? Mit Sicherheit ist es ein Job für Könner.

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